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Kognitive Dissonanz: Wenn Fakten und eigene Realität kollidieren

Kognitive Dissonanz bedeutet in der Sozialpsychologie ein Gefälle zwischen innerer Überzeugung und neuem Wissen. Wie schlimm ist das für Betroffene? Die Fabel “Der Fuchs und die Trauben” von Äsop muss im deutschen Sprachraum häufig für die Erklärung von kognitiver Dissonanz herhalten.

Kurzum: Fuchs will Trauben, doch diese hängen zu hoch, Fuchs spürt dieses Gefälle zwischen wollen und nicht haben können als Form kognitiver Dissonanz und redet sich ein: “Die Trauben sind sicher sauer. Ich mag sie nicht mehr.”

Dass Äsop den schlauen Fuchs als Charakter für die Darstellung dieses Effektes wählte, macht durchaus Sinn. Schließlich sind auch die klügsten Menschen nicht vor der kognitiven Dissonanz geschützt. Die Fabel passt sogar so gut, dass Experimente zur kognitiven Dissonanz den so genannten “Sauren-Trauben-Effekt” beweisen sollten.

Zwischen Äsop und Leon Festinger, dem Begründer der kognitiven Dissonanz-Theorie, liegen fast 2.000 Jahre, in denen sich scheinbar wenig am Phänomen geändert hat. Dennoch konnte Festinger die kognitive Dissonanz noch weiter ergründen und mit wissenschaftlichen Methoden ein Fundament und auch Basis für Lösungsansätze schaffen. Wie häufig sind wir kognitiv dissonant? Welche Auswege, Möglichkeiten der “Dissonanzreduktion”, gibt es? Und wie wird kognitive Dissonanz aktiv in Unternehmen und Marketing genutzt?

Kognitive Dissonanz in Sozialpsychologie, Selbstbild und Unternehmen

Im Gegensatz zu psychologischen Phänomenen wie dem Dunning-Kruger-Effekt oder dem Hochstaplersyndrom ist kognitive Dissonanz fast als “normal” einzustufen. Kognititve Dissonanz bedeutet laut Definition nach Festinger schlicht, dass zwei Elemente des Wissens und Glaubens, die miteinander in Verbindung stehen, aber (z.B. für das Weltbild oder Selbstbild) unvereinbar sind, ein unkomfortables Gefühl hervorrufen. Die Dissonanztheorie musste in den über 50 Jahren des Bestehens einigen Tests standhalten und sollte als Basis für weitere Untersuchungen dienen. Dafür wurde in verschiedenen Experimenten auf dieser aufgebaut.

Freier Wille Experiment (Brehm 1956)

Testpersonen sollten zwischen Alternativen wählen. Es gab einfache und schwere Entscheidungen, wobei die Antworten bei der schweren Entscheidung in der Attraktivität ähnlicher waren.

Das Ergebnis: Nach der Entscheidung bewerteten Testpersonen die abgelehnten Möglichkeiten als negativer. Es wurde also mehr oder weniger bewusst die eigene getroffene Entscheidung durch eine Anpassung der Einstellung und des Denkens untermauert und die Wahrheit absoluter gespiegelt, als es der Fall war.

Beispiel aus dem Alltag: Vor dem Kauf eines neuen Kühlschranks stehen Sie vor verschiedenen Alternativen – größer, schönere Farbe, mit Eisfach und Eiswürfelfunktion oder amerikanischer Kühlschrank für eine Großfamilie: So unsicher und hin- und hergerissen Sie vor dem Kauf auch sind, nach dem Erwerb erscheint Ihre Entscheidung als richtig und andere Möglichkeiten werden plötzlich weniger attraktiv: “Es ist gut, dieses Modell gekauft zu haben.” Auch werden Modelle, die nun nicht mehr erworben werden sollen, als schlechter bewertet und sind plötzlich sauer wie die Trauben aus der Fabel.

Induced Compliance – Induzierte Zustimmung (Festinger, Carlsmith 1959)

Festinger selbst hat bei diesem Experiment zwei Gruppen damit beauftragt, eine bestimmte Sache zu bewerben. Einer Gruppe wurde dies mit der Zahlung von 20,00 Dollar schmackhaft gemacht. Die andere Gruppe erhielt nur 1,00 Dollar für die Bemühungen.

Das Ergebnis: Nach geleisteter Überzeugungsarbeit bewertete die Gruppe, welche nur 1,00 Dollar für die Bemühung erhielt, den beworbenen Sachverhalt selbst als positiver. Die Gruppe, welche die 20,00 Dollar erhielt, bewertete den beworbenen Sachverhalt nicht positiver als vorher. Die innere Überzeugung wurde angepasst: Eine Gruppe konnte sagen, es für die 20 Dollar getan zu haben, während die andere Gruppe eine künstliche Überzeugung entwickelte, um die Bemühungen, das Bewerben des Sachverhaltes, zu rechtfertigen.

Beispiel aus dem Alltag: Arbeiter sind zwar bereit, einen geringeren Lohn in Kauf zu nehmen, wenn andere Faktoren des Wohlfühlens am Arbeitsplatz erfüllt werden, doch wäre es falsch zu sagen, dass Arbeiter sich mehr mit einem Unternehmen identifizieren, wenn sie schlechter bezahlt würden.

Allerdings sind wir bereit, etwas für ein geringeres Entgelt zu tun, wenn uns die Arbeit spaß bereitet.

Effort Justification – Rechtfertigung der Bemühung (Aronson, Mills 1959)

Testpersonen mussten unterschiedlich schwere Aufnahmerituale absolvieren, um einer Gruppe beizutreten. Ein Teil der Testpersonen absolvierte eine peinliche Aufgabe, der andere Teil der Testpersonen eine leichte, nicht peinliche Aufgabe.

Das Ergebnis: Die gleiche, von den Initiatoren sogar als “langweilig” beschriebene, Gruppe wurde von den Testpersonen, die ein schwereres Aufnahmeritual absolvierten, als interessanter bewertet.

Beispiel aus dem Alltag: Das gute Ergebnis bei der Prüfung, für die Sie sehr viel lernen mussten, weil Ihnen der Stoff schwerer fällt, erfreut Sie mehr als das gute Ergebnis bei einer Prüfung, bei der Ihnen der Stoff leicht fällt. Diese und weitere Beispiele für das Verständnis und die Entwicklung der Dissonanztheorie finden Sie in “Cognitive Dissonance Theory After 50 Years of Development” erschienen in “Zeitschrift für Sozialpsychologie,38 (1), 2007, 7–16“.

Kognitive Dissonanz überwinden

Mit kognitiver Dissonanz lässt sich leben: Raucher wissen, dass Zigaretten schädlich sind, aber rauchen trotzdem. Auch Personen, die gern Süßes naschen, aber wissen, das Zucker dem Körper schadet und man ein paar Kilo verlieren könnten, akzeptieren den Widerspruch. Doch leben diese Menschen viel eher damit, dass die Fakten geleugnet oder kleingeredet werden und man “ja noch lebt, obwohl man raucht” oder “mein Großvater auch raucht und 100 Jahre alt geworden ist”. Auch versuchen manche, dieses Wissen und das unangenehme Gefühl der Dissonanz auszugleichen, indem sie auf eine gesunde Ernährung zum Ausgleich, Heilfasten oder sportliche Aktivität wert legen um den ungesunden Lebenseinflüssen entgegenzuwirken.

Erfolgreiche Dissonanzreduktion hat Methode

Dissonanz kann von bestimmten Menschen als sehr unangenehm empfunden werden. So unangenehm, dass das Bewusstsein über dieses Gefälle dem Wohlbefinden im Weg steht. Um wieder eine Einheit im Kopf herzustellen oder das unangenehme Gefühl der Dissonanz zu bekämpfen, gibt es verschiedene Möglichkeiten. Hier finden Sie zwei Möglichkeiten der Dissonanzreduktion.

Neuausrichtung der Überzeugung bei Dissonanz

Flexible Menschen haben es leicht: Sorgt ein neuer Fakt für kognitive Dissonanz und das bisherige Weltbild gerät ins Wanken, richten sich die Betroffenen neu aus. Dafür werden:

  • alte Überzeugungen durch neue ersetzt

“Ich dachte immer, dass Globuli wirklich helfen. Nach den neuesten Erkenntnissen nehme ich sie aber nicht mehr.”

  • die bestehenden Überzeugungen ergänzt

“Es gibt neue Untersuchungen, dass Globuli nicht wirken. Ich glaube an diese Erkenntnisse, nehme Globuli trotzdem, weil meine Kopfschmerzen wirklich verschwinden.”

Selektive Wahrnehmung

Vor Fakten die Augen zu verschließen oder diese zu leugnen, kann die kognitive Dissonanz erfolgreich reduzieren. Und obwohl gezielte Verdrängung von Tatsachen nie etwas Gutes ist, kann diese Methode auch auf Fakten basieren. Schließlich gibt es bei vielen Theorien Schwachstellen und Versuche, diese zu widerlegen. Schnell bedienen sich Betroffene anderer Theorien, die das Gegenteil behaupten.

Auch Ausreden werden gesucht. Einige Menschen leiden bei kognitiver Dissonanz so stark, dass das Verhalten bewusst auf das Versagen in einer Prüfung angepasst wird, indem man besonders spät schlafen geht, um eine Ausrede für eventuelles Scheitern zu haben. Spätestens dann steht die kognitive Dissonanz dem Erfolg und der Karriere im Weg.

Kognitive Dissonanz im Marketing

Kognitive Dissonanz ist kein schwerwiegendes Syndrom. Das Phänomen der Dissonanz bedeutet lediglich, dass Menschen sich aktiv in ein bestimmtes Selbstbild entwerfen und dies manchmal bewusst oder unterbewusst tun.

Marketingmethoden spielen schon seit Jahren mit diesem Effekt und versuchen: 

  • das Image einer Marke zu erzeugen, bei der ein Gefühl mitschwingt, 
  • die ein oder andere kleine Sünde des Alltags schönzureden oder
  • Produkte, die im Vergleich zur Konkurrenz in bestimmten Eigenschaften weniger gut abschneiden, besser dastehen zu lassen.

Kognitive Dissonanz als Ringen um die eigene Wahrheit

Die Wahrheit ist selten so eindeutig, wie wir es denken. Kommt es zu extremen Unterschieden zwischen Wissen,Überzeugung und Fakten oder Umständen wird ein Unwohlsein erzeugt, welches Festinger als kognitive Dissonanz beschrieb. Menschen sind komplexe, denkende Lebewesen und Fragen der Identität hängen so stark vom Fühlen ab, dass unser Konsum, unser Selbstbild und auch das Weltbild selten so deutlich sind wie eine mathematische Formel. Menschen können die Kognition anpassen, immer besser als Teil eines Teams funktionieren, mit Aufgaben und Philosophien sympathisieren, die sie anfangs nicht mochten und die Welt dabei sehr subjektiv wahrnehmen.

Wichtig ist, dass Betroffene die Augen nicht vor der Realität verschließen und bestimmte Fragen des Daseins nicht so ernst nehmen, dass es Ihnen nicht möglich ist, auf aktuelle Änderungen, neue Fakten oder neues Wissen zu reagieren und das Weltbild oder die Gefühlswelt wichtigen Anpassungen bewusst entziehen. So wie bei dreisten Werbebehauptungen im Marketing gilt dabei: Umso stärker man sich von der Realität entfernt und diese sogar leugnet, umso größer ist die Gefahr, Misserfolg zu erleiden.